Wir haben eine Verabredung: Update zum aktuellen Ermittlungsverfahren

2023
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Historia

Texto original en alemán
Treffen in Solidarität mit den Beschuldigten
2023
kontrapolis.info

Einführung

Wir wollen einen ersten Überblick über den bisherigen Stand im Verfahren gegen zwei Gefährt*innen geben, die am 16.02.2023 in Berlin Adlershof festgenommen wurden. Wir denken, dass Erfahrungen, die von Einzelnen gemacht werden, durchaus von kollektivem Nutzen sein können, wenn wir Wege finden, sie zu teilen. Gerade auch Momente der Repression sollten keine individuell ertragenen Schicksale sein, sondern Gelegenheiten des Zusammenkommens und der Offensive. Dieser Text soll ein weiterer Schritt in diese Richtung sein.

Was ist passiert?

In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar befindet sich der Hubschrauber „Pirol” der Bundespolizei auf einem Überwachungsflug von Bahnanlagen. Um 0:26 Uhr stellt die Besatzung mit der Wärmebildkamera zwei Personen an einer Gleisböschung südlich des S-Bahnhofes Adlershof fest. Nach einer Meldung an die Bundespolizeiinspektion am Ostbahnhof, werden mindestens zwei Streifenwagen und eine Zivilstreife der BPol alarmiert und über Funk vom Hubschrauber an den Einsatzort geleitet.

Weil sich die zwei Personen an und in einem Bahntunnel befinden sollen, postiert sich eine Streife am südlichen Tunnelausgang, während die beiden anderen Fahrzeuge im größeren Umkreis parken und die Bullen sich zu Fuß — unter Anleitung des Hubschraubers — auf unterschiedlichen Wegen zum nördlichen Tunnelausgang vorarbeiten. Da moderne hochauflösende Wärmebildkameras es den Bullen bei unverbauter Sicht ermöglichen, Personen auch noch aus zehn Kilometern Entfernung zu beobachten, muss der Helikopter dafür auch nicht in Sicht- und Hörweite der Verdächtigten verbleiben[1].

Kurz nach 1 Uhr betreten die Bullen schließlich den Tunnel und fordern die zwei Gefährt*innen mit gezogener Waffe auf, sich im Gleisbett auf den Boden zu legen. Anschließend werden beide und ein Rucksack außerhalb des Tunnels durchsucht. Dabei werden nach Angaben der Bullen zwei eingeschaltete Funkgeräte sowie eine Liste mit zivilen Fahrzeugkennzeichen der Berliner Polizei aufgefunden. Zusätzlich werden ein paar Lederhandschuhe eingezogen. Während der einsatzleitende Bulle sich bei den Gefährt*innen erfolglos zu erkundigen versucht, was sie denn dort gemacht hätten, laufen mehrere Bullen mehrmals den Tunnel auf der Suche nach frischen Graffiti oder Dosen ab, ebenfalls ergebnislos. Bei den Funkgeräten werden die — im eingeschalteten Zustand angezeigten — Frequenzen abfotografiert. (Für interessierte Amateurfunker*innen: Bei den Geräten handelte es sich augenscheinlich um das Modell BaoFeng GT-3TP mit gelben Applikationen. Die fotografierten Frequenzen waren: 453.425 (Ch.2) 464.425 (Ch.13)) Der mit den Geräten befasste Zivi gibt an, irgendwann eine eingehende Funkübertragung bemerkt und dabei eine weibliche Stimme gehört zu haben. Weiter soll er dann selbst in das Gerät gesprochen haben, um der unbekannten Stimme mitzuteilen, dass er gerade nicht sprechen könne, weil Bahnpersonal in der Nähe sei. Unter vorfreudiger Hektik eilen die beiden Zivis daraufhin zu ihrem Fahrzeug und suchen die weitere Umgebung nach etwaigen Mittäter*innen ab. Ohne Erfolg.

Unterdessen wird beim vierten oder fünften Absuchen des Tunnels ein Rucksack aufgefunden, der sich zwischen Tunnelwand und Kabelschacht versteckt haben soll. Dieser wird aus dem Tunnel gebracht und durchsucht. Laut Bullen werden darin originalverpackte Haushaltshandschuhe und ein mit Flüssigkeit gefüllter Kanister für Scheibenwischwasser gefunden. Da die Bullen nun eine geplante Brandstiftung an Bahnanlagen vermuten, werden die Gleise auf unbekannter Länge nach weiteren Behältnissen abgesucht, ein Spürhund angefordert und die Ermittlungen an die Kriminalpolizei der Direktion 5 übergeben. Die Gefährt*innen werden nochmals durchsucht, weil bisher kein Feuerzeug oder ähnliches bei ihnen gefunden wurde. Dies ändert sich jedoch auch dadurch nicht.

Gegen 3:30 Uhr erreichen sowohl der Hund, als auch die Kripo den Ort. Nachdem ihm von beiden Festgenommenen Geruchsproben gegeben worden sein sollen, läuft der Spürhund wenige hundert Meter bis sich die Spur verliert. Von der Kriminalpolizei bekommen beide Gefährt*innen unterdessen für eine halbe Stunde Plastikhandschuhe übergezogen, um damit im Labor eventuelle Rückstände von Brandbeschleunigern nachweisen zu können. Des Weiteren werden nun Rucksack, Kanister, Haushaltshandschuhe, Funkgeräte und eine im Tunnel gefundene PET-Flasche für spätere Untersuchungen auf DNA bzw. Fingerabdrücke eingetütet.

Um ca. 4:45 Uhr werden die Maßnahmen vor Ort beendet und beide Gefährt*innen zur zentralen Gefangenensammelstelle (GeSa) am Tempelhofer Damm gebracht. Bevor beide die Möglichkeit bekommen eine Anwältin zu kontaktieren, werden mündliche Durchsuchungsbeschlüsse für die jeweiligen Meldeanschriften eingeholt und ab 16 Uhr umgesetzt. Die Bullen greifen dafür auf die bei den Festgenommenen aufgefundenen Schlüssel zurück. Da sie an einer Anschrift keine passende Wohnungstür zu den Schlüsseln finden, schlussfolgern sie, dass die Person dort nicht wohne. Dies führen sie später als Argument für einen Haftbefehl auf. An der zweiten Adresse passen die Schlüssel. Hier durchsuchen sie in Abwesenheit der Bewohner*innen eine gute Stunde lang die Wohnung, Keller und ein KFZ, dessen Schlüssel sie in der Wohnung vorfinden. Beschlagnahmt werden ein Laptop, Tierabwehrsprays, Feuerwerkskörper und ein angeblicher „GPS-Tracker”. Erst nach Durchführung der Durchsuchungen erhalten beide Gefährt*innen die Möglichkeit ihre Anwältinnen zu kontaktieren und einige Stunden später von ihnen besucht zu werden. Die Nacht verbringen sie in der Zelle. Am Folgetag erfahren sie von ihren Verteidigerinnen von der anstehenden Vorführung beim Haftrichter. Diese erfolgt dann ca. 18 Uhr am selben Tag. Gegen die Gefährt*innen wird Haftbefehl erlassen, der jedoch gegen Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt wird. Ab 19 Uhr, mehr als 40 Stunden nach ihrer Festnahme, können sie letztendlich die GeSa verlassen. Vor der Tür werden sie von solidarischen Menschen empfangen, die einem zuvor veröffentlichten Aufruf gefolgt waren.

Weitere Ermittlungen

Die Folgen der Verhaftung und des damit verbundenen Ermittlungsverfahrens sind aktuell und für unabsehbare Zeit nur schwer abschätzbar. An Spekulationen haben wir hier und auch generell kein Interesse, halten es aber für sinnvoll auf einige konkrete oder sich abzeichnende Dinge einzugehen. Zuallererst sind da die akuten Konsequenzen für die zwei Gefährt*innen: Beide müssen sich auf unbestimmte Zeit zweimal wöchentlich bei einer Bullenwache melden. Im Rahmen der Meldetermine wurde den Gefährt*innen am 23. bzw. 28. Februar bereits DNA entnommen. Gleichermaßen bleibt das Risiko bestehen, dass die Repressionsbehörden ihre Meinung ändern und das obligatorische Melden für die Vollstreckung der Haftbefehle nutzen. Ein Vorgehen, das sich bei anderen Verfahren bereits gezeigt hat. Erfahrungsgemäß muss davon ausgegangen werden, dass im Rahmen der Ermittlungen Telekommunikationsüberwachungen, verdeckte Observationen und Ähnliches angeordnet werden und diese Maßnahmen auch weitere Personen betreffen können.

Die Bedeutung, die die Behörden diesen Ermittlungen beimessen, wird sich dabei nicht hauptsächlich aus dem gewählten Tatvorwurf ergeben, sondern auch von ihrer Einordnung in einen angenommenen politischen Kontext abhängen. So scheint der Staatsschutz derzeit davon auszugehen, dass in Adlershof Leitungen der Deutschen Bahn in Brand gesetzt werden sollten. Eine politische Praxis, die sowohl in Berlin als auch bundesweit eine lange und wiederkehrende Geschichte aufzuweisen hat. Im Kontext tagespolitischer Diskurse um „Kritische Infrastruktur” besteht seit längerem eine erhöhte Relevanz für die Repressionsbehörden, derlei Anschläge zu verfolgen, ohne dass jemals Ermittlungserfolge präsentiert werden konnten.

Die Brisanz dieses Themenfeldes mag zum Einen erklären, weshalb Informationen über die verhafteten Gefährt*innen und den angeblich verhinderten „Anschlag auf die Bahn” ihren Weg in die Presse gefunden hatten, noch bevor die Anwältinnen irgendwelche Informationen erhalten haben. Zum Anderen lässt sie erahnen, wie im LKA nun zahlreiche Akten über Anschläge auf Bahnanlagen entstaubt werden, in der Hoffnung, Verbindungen zum aktuellen Verfahren erfinden zu können.

Solidarität

Auch wenn uns staatliche Repression immer in unseren Kämpfen begleitet, bedeutet ein solches Verfahren, neben Überwachung oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, sowohl eine emotionale Belastung für die Betroffenen als auch ihr Umfeld. Wir würden uns etwas vormachen, einfach so zu tun, als ließe uns das alles kalt. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Repression deswegen im Sinne des Staates erfolgreich sein muss. Wir sind keine unfehlbaren Kämpfer*innen, die alles einfach weg stecken. Vielmehr finden wir es wichtig, solche Einschläge als Anlass dafür zu nehmen, Wege eines Umgangs zu finden, der uns weder lähmt, noch ignorant werden lässt, sondern unsere Fähigkeiten entwickelt, Ängste, Unsicherheiten und Kritik zu formulieren. Dies nicht als Schwäche, sondern als Chance zu sehen, um unsere Beziehungen und das Band der Solidarität nachhaltig zu festigen und zu stärken. Aber auch Fakten und Wissen bzgl. des staatlichen Vorgehens so gut wie möglich transparent und für Viele zugänglich zu machen. Nur so denken wir, lässt sich Repression nicht als Schicksal Einzelner verstehen, sondern als ein staatlicher Angriff, auf den es eine kollektive Antwort braucht.

Um den Raum für eine solche Antwort zu schaffen, wurde zeitnah nach der Entlassung der beiden Gefährt*innen aus der GeSa zu Solidaritätstreffen eingeladen. Diese wurden genutzt, um alle auf den aktuellen Informationsstand zu bringen, Erlebtes zu teilen, über Bedürfnisse zu reden und Aufgaben zu verteilen. Sie werden auch von vielen Fragen begleitet, die sich als vielschichtig und komplex herausgestellt haben: Wie damit umgehen, dass unter unseren Gefährt*innen Personen mit umfangreichen Überwachungsmaßnahmen zu rechnen haben? Wie sollen sich die Betroffenen anderen gegenüber verhalten? Was macht es mit den Menschen, die aufgrund eines bekannten Ermittlungsverfahrens den Stempel des „Sicherheitsrisikos” aufgedrückt bekommen? Fragen, die sicher nicht leicht zu beantworten sind, aber umso dringlicher gestellt werden müssen.

Ausblick

Was aus diesem Verfahren wird, ist ungewiss. Wir sind jedoch nicht die ersten und werden auch nicht die letzten sein, die sich in einer solchen Situation zurechtfinden müssen. Auch wir haben schon viel aus den Erfahrungen Anderer gelernt und finden es stets hilfreich, wenn diese geteilt werden. Sicher ist, wir werden nicht den Kopf in den Sand stecken und auch keine Ruhe geben.

Wir freuen uns über jede Solidarität und Grußbotschaft, die uns in Worten und Taten erreicht. Sie geben Kraft und Mut.

Wir haben eine Verabredung!